Verwandlungskünstler
Die Evolution der digitalen Audioübertragungstechnik
Der große HD-Übertragungswagen des WDR mit Sitz in Köln spielt überall dort mit, wo der Sender wichtige Übertragungen und Produktionen vornimmt. Er ist der neueste von insgesamt vier WDR-Übertragungswagen mit AURUS-Tonregie und setzt neue Maßstäbe in Sachen Vielseitigkeit
Man könnte denken, die digitale Übertragungstechnik sei mittlerweile ausgereizt. Immerhin sind die ersten großen digitalen Übertragungswagen seit über 20 Jahren auf Deutschlands Straßen zugelassen. Seitdem hat sich die Technik stetig in Richtung höherer Leistungsfähigkeit bei geringerer Baugröße weiterentwickelt, während die Übertragungswagen selbst zu immer bemerkenswerteren Raumwundern avancierten. Anreize zur Evolution gab und gibt der Umstieg auf High-Definition. Die großen Sensationen, also beispielsweise völlig neue Konzepte oder Technologien, sucht man allerdings in aktuellen Übertragungswagen vergeblich. Stattdessen entwickelt sich deren Technik nach wie vor stetig und vielleicht etwas unspektakulär, aber auf sehr hohem Niveau weiter. Dieser Trend ist auch beim WDR mit Sitz in Köln zu beobachten, dem größten Sender des deutschen öffentlich-rechtlichen Senderverbundes ARD. Dessen TV-Ü-Wagen-Flotte bekam 2012 Zuwachs und wird nun um den eindrucksvollen HD-Wagen HD FÜ4 mit einer AURUS-Tonregie ergänzt. Wie so häufig in der Fernsehproduktion macht die Tonregie nur einen kleinen Teil des neuen Wagens aus. Dagegen ist der gesamte Videoteil außerordentlich großzügig bemessen, wozu beidseitige Auszüge mit jeweils mehr als einem Meter Tiefe beitragen. Dieser Platz kann unterschiedlich genutzt und sogar mit variablen Trennwänden in verschiedene Räume aufgeteilt werden. Ein kleiner Multifunktionsraum dient von Fall zu Fall als zusätzliche Bildregie, MAZ oder als Tonsubregie. Diverse Arbeitsplätze, wie zum Beispiel die EVS-Plätze, können unterschiedlich angeordnet werden, so dass sich der Wagen sehr flexibel an verschiedene Produktionssituationen anpassen lässt.
Routen oder stecken
Flexibilität ist auch in der Tonbearbeitung gefragt. Einen wichtigen Beitrag leistet hier AURUS, das als frei konfigurierbares Audiomischpult im Zentrum der tontechnischen Anlagen steht. Das WDR-Fernsehen hatte mit dem Pult bereits in seinen SD-Übertragungswagen gute Erfahrungen gesammelt.
Das Gespann aus AURUS und dem für alle nur denkbaren Audioformate offenen NEXUS bildet die in der Übertragungstechnik so wichtige Flexibilität bereits ab. Die beiden sind genau dort wegen ihrer guten und schnellen Anpassungsfähigkeit wichtige Partner – nicht nur beim WDR. Ein weiteres Plus ist das hohe Maß an Integrationsfähigkeit in die verschiedensten Audioumgebungen. Beim HD FÜ4 war auch um AURUS und NEXUS herum eine sehr offene, vielfältig nutzbare Infrastruktur gefragt. Sie manifestiert sich, für jeden sichtbar, in einem umfangreichen Audiosteckfeld in der Tonregie, über das alle relevanten Signale gesteckt, alle Ports individuell belegt werden können. Werner Menskes, Produktionsingenieur der Fernsehaußenübertragung des WDR und Verantwortlicher seiner Abteilung für Konzept und Realisation des Wagens, erläutert das so: „Im Bereich der Fernsehproduktion ist ein solches Steckfeld eine wichtige Arbeitsvoraussetzung, um für alle eventuell auftretenden Situationen gerüstet zu sein.“ Da kann es beispielsweise erforderlich sein, zusätzliche Quellen zu stecken oder bei manchen, I/O-seitig sehr offenen Geräten eine bisher als Eingang definierte Leitung nun als Ausgang zu nutzen. Auch wenn zusätzliche Abhörpunkte zu schaffen sind, eine sehr direkte Fehlersuche gewünscht ist oder sogar eine umfassende Havariesituation gesteckt werden muss – das Steckfeld mit seinen etwa 1800 Anschlüssen fördert die Variabilität des Ü-Wagens nochmals gewaltig. An ihm liegen auch die Intercom-Ports auf, die analog oder digital, diskret gesteckt oder durch NEXUS getunnelt an die Sprechstellen angebunden werden können. Ein weiteres Audiosteckfeld mit etwa 400 Anschlüssen, das im MAZ-Raum untergebracht ist, unterstützt dieses Konzept zusätzlich.
Der HD-Wagen im Überblick
Der Ausbau des HD FÜ4, eines 40-Tonnen-Aufliegers mit Zugmaschine, kommt von VTS Studiotechnik in Eglhausen bei München. Der Wagen lässt sich auf beiden Seiten durch Auszüge jeweils um etwa einen Meter verbreitern. Da Köln als Heimatstadt des HD FÜ4 innerhalb seines mittelalterlichen Stadtkerns viele enge Gässchen aufweist, bietet der Wagen auch die Option, mit nur einem der beiden Auszüge betrieben zu werden. In voller Größe stellt der Übertragungswagen fünf Räume – die Bildkontrolle, Bildregie 1, eine kombinierte MAZ mit Bildregie 2, die Tonregie und einen Multifunktionsraum – bereit, in denen bis zu 23 Personen gleichzeitig arbeiten können. Audioseitig ist der Wagen mit einer 48-kanaligen AURUS-Bedienkonsole samt voll ausgestattetem Audioprozessing bestückt. Das dazu gehörende NEXUS-Audionetzwerk verfügt über 128 Mikrofoneingangskanäle. Als 5.1-fähige Zuspieler werden die DAW Sequoia und der Eventdriver eingesetzt.
Zentral und dezentral gleichzeitig
Diese vielen Anschlussmöglichkeiten machen es einerseits möglich, den Wagen ganz klassisch zentral zu beschalten. Dazu zieht die Crew Kupferkabel, zum Beispiel von den Bühnenmikrofonen bis zum Übertragungswagen. Üblicherweise wird jedoch die NEXUS-typische Betriebsweise mit dezentralen Audio-Interfaces verwendet, zu der mobile NEXUS-Basisgeräte über Glasfaser verlängert am Set bereitgestellt werden. Und auch an dieser Stelle hat sich der WDR mehrere Möglichkeiten offen gelassen, denn neben der Variante der Signalführung über das NEXUS-Netzwerk bietet der Wagen noch ein weiteres Glasfasersystem, mit dem neben Audio auch Videosignale, Intercom- und Datennetze angeschlossen werden können. Die Ausstattung des AURUS selbst erfolgte ebenfalls in Hinblick auf eine größtmögliche Flexibilität. Sämtliche TFT-Bildschirme des Pultes, die im normalen Betrieb die Aussteuerungsanzeigen der Kanäle darstellen, können alternativ mit HD-SDI-Signalen beschaltet werden, der Bildschirm der Zentraleinheit kann das Mehrkanal-Sichtgerät von RTW zeigen.
Der HD FÜ4 versieht seinen Dienst bei vielen Produktionen. Das reicht von Sportveranstaltungen – bisheriges Highlight: die Übertragung des Fußball-EM-Halbfinales Deutschland gegen Italien in Warschau – über den Mitschnitt kultureller Veranstaltungen bis hin zu Produktionen auf dem WDR-eigenen Gelände in Köln-Bocklemünd. Besonders bei großen Live-Veranstaltungen produziert der Wagen mehrere unterschiedliche Sendesummen. Neben der Hauptsumme gibt er häufig noch einen Clean-Feed, einen IT-Ton oder sonstige Zusatzmischungen ab. Damit alles reibungslos abläuft, ist er mit vier Sendeleitungen ausgelegt, die bis zu 16 Audiokanäle umfassen und kann im Bedarfsfall auch auf acht Sendeleitungen mit jeweils acht Audiokanälen umkonfiguriert werden. Dank der offenen Busstruktur des AURUS kann das Mischpult je nach benötigter Anzahl von Summen passend zum jeweiligen Projekt konfiguriert werden. Bernd Peters, einer der Toningenieure des WDR, der häufiger auf dem HD FÜ4 produziert, ist in diesem Zusammenhang vor allem von der AURUS-Downmix-Funktion überzeugt: „Wenn wir Mehrkanalproduktionen mischen, verwenden wir die AURUS-Downmix-Matrix, um in Echtzeit aus unserer Mehrkanalmischung das Stereo-Sendesignal zu erzeugen.“
Begrenzung für Surround-Summen
Bei so vielen möglichen Ausgangssignalen wäre die Sendeaufschaltung eine ziemlich komplexe Sache. Eine übergeordnete Kreuzschienensteuerung, der KSC-Manager der BFE, vereinfacht hier die Arbeit. Auch die STAGETEC-Anlage ist in diese Steuerung eingebunden, so dass durch die Anwahl einer Sendeleitung am KSC-Manager die dazugehörenden Koppelpunkte in NEXUS automatisch gesetzt werden. Die verschiedenen Mehrkanalsummen sollen in der Regel mithilfe einer Dynamikeinheit in ihrem Maximalpegel begrenzt werden. Das Angebot an mehrkanalig verkoppelten Kompressoren und Limitern ist allerdings begrenzt; die meisten Systeme arbeiten nur in Stereoverkopplung und müssten manuell mehrkanalig verlinkt werden. Aus diesem Grund möchte der WDR ein anderes Konzept verfolgen und nur für die Hauptsumme eine echte Hardware-Dynamikeinheit bereitstellen. Für die übrigen Ausspielwege setzt der Sender stattdessen auf VST-Plug-Ins. Das Plug-In Surround 360° von Wave bietet sich zu diesem Zweck an. Es wird über Nuendo angesprochen, das als eine der wenigen DAWs vier mehrkanalige Signale ausspielen kann. Im Zusammenspiel mit AURUS ließe sich die DAW samt Plug-In direkt vom Pult aus steuern, was in Zukunft vielleicht eine Option für den HD FÜ4 sein wird. Es bleibt also noch Freiraum für weitere Entwicklungen, denn auch die Evolution der digitalen Tontechnik bringt immer wieder bemerkenswerte Neuerungen hervor, solange man sie mit einem so offenen Konzept zulässt!