Ein neuer Stern am Sendehimmel
Radio Bremen nimmt digitales Funkhaus in Betrieb
Wie schafft es ein Sender, sich in kürzester Zeit vom unscheinbaren Problemkind zum Star der deutschen Broadcast-Landschaft zu wandeln? Radio Bremen, der kleinste öffentlich-rechtliche Sender im deutschlandweiten ARD-Verbund, hat es vorgeführt: mit mutigen Konzepten und einer ganz besonderen, innovativen Technik
In finanzieller Hinsicht stand Radio Bremen in den letzten Jahren nicht besonders gut da. Immer öfter war der Ruf nach einer Schließung oder der Zusammenlegung mit einem größeren Sender laut geworden. Eine Einstellung, die sich gewandelt hat: Heute sind es die Großen, die ihr Augenmerk auf den innovativen Weg richten, auf dem der kleine Sender aus der Krise herausgefunden hat.
Um Kosten zu senken, trennte sich Radio Bremen zunächst von seinen beiden großen Standorten innerhalb Bremens, in denen bislang streng getrennt Hörfunk beziehungsweise TV produziert wurde. In einem neuen, kompakten Gebäudekomplex sind seit Ende 2007 alle Sparten des Senders miteinander verzahnt, neben Hörfunk und TV auch die Internetzulieferung. Um effektiver und günstiger produzieren zu können, strukturierte der Sender seine Redaktionen komplett um. Heute bedient eine Fachredaktion, beispielsweise Sport, alle drei Sparten, arbeitet also tatsächlich tri-medial. Die Technik, mit der die Redakteure arbeiten, muss diesem tri-medialen Konzept zwingend zuarbeiten.
Technisch vielfach zukunftsweisend
Nicht nur räumlich und strukturell änderte sich bei Radio Bremen mit dem Umzug nahezu alles. Auch die Produktionstechnik wurde fast vollständig neu angeschafft. Dieses Vorgehen war dringend erforderlich, sowohl um die neuen Konzepte umsetzen zu können, als auch um beispielsweise die veraltete und noch rein analoge Mischtechnik einer grundlegenden Modernisierung zu unterziehen. Nun gibt es aus dem neuen Haus, das übrigens technisch von der BFE als Generalunternehmen realisiert wurde, viel Staunenswertes zu berichten: von neuer Technik über bislang einzigartige Ansätze, zum Beispiel beim Redaktions- und Sendesystem, das für TV, Hörfunk und Web-Zulieferung gleichermaßen genutzt wird bis hin zum gemeinsamen Hörfunk- und TV-Archivspeicher mit derzeit 110 TByte Speicherkapazität. Oder über die flexiblen Arbeitsplätze der Journalisten und Redakteure, die mit ihrem persönlichen Rollcontainer an jedem freien Platz in der Redaktion einziehen können. Der Schwerpunkt dieses Berichts soll aber auf der Audio-Produktionstechnik liegen, die ebenfalls in Sachen Flexibilität erstaunliche Maßstäbe setzt, selbstverständlich basierend auf AURUS und NEXUS.
Bi-medial für mehr Effektivität
Bei der Ausstattung eines Funkhauses ist die Technik mit dem höchsten Aufwand sicher die Produktionstechnik in den großen Regien. Davon ausgehend wurde bei Radio Bremen der Plan entwickelt, jede der technisch hochwertig ausgestatteten Regien möglichst effektiv auszulasten. Mit der Idee der bi-medialen Produktionsregie sowohl für TV als auch für Hörfunk ließ sich die Anzahl der Hauptregien auf fünf reduzieren. Von diesen Hauptregien, die alle mit AURUS ausgestattet sind, wird lediglich eine ausschließlich für TV genutzt. Die übrigen Regien stehen wahlweise für TV oder Hörfunk zur Verfügung. Das AURUS-Mischpult der Event-Regie erhielt besonders viel DSPLeistung und kommt daher sowohl bei großen Hörfunk- als auch beispielsweise bei TV-Produktionen mit Live-Musik und vielen Mikrofonen zum Einsatz. Auch Konzertmitschnitte sind dort möglich, denn das der Event-Regie zugedachte Studio lässt sich weit in einen offenen Gastronomiebereich hinein öffnen und so für Publikumsveranstaltungen wie Konzerte nutzen. Drei weitere Regien sind für Hörfunkproduktionen und TV-Nachvertonungen vorgesehen. Alles in allem verfügt Radio Bremen somit über vier bi-medial nutzbare Regien. Dazu kommen noch zwei bi-medial nutzbare Studios und vier Sprecherräume, die ebenfalls überwiegend der bi-medialen Nutzung dienen sollen.
Temporäre Netze
Richtige Flexibilität bringen aber erst die sechs Glasfaserumschalter OMUX ins Spiel. Sie ermöglichen eine Besonderheit: die Zusammenschaltung der Basisgeräte eines der zwei bi-medialen Studios oder der vier Sprecherräume mit jeder beliebigen der fünf Regien. Das ergibt nahezu unzählige verschiedene Kombinationsmöglichkeiten. OMUX-Umschalter an sich sind keine Besonderheit mehr. Neu hier ist allerdings, dass mit Hilfe der OMUXe jeweils weitere, vollkommen unabhängige Sub-Netze oder Inseln geschaltet werden, die keine Verbindung zum Hauptnetz haben müssen. Der Vorteil: eine hohe Flexibilität bei gleichzeitiger Rückwirkungsfreiheit von einem Subnetz auf das andere. Lediglich über MADI oder über diskrete Audioleitungen sind diese temporären Netze aus Regie und Studios mit anderen Regien oder dem zentralen Schaltraum verbunden.
Vermutlich werden im Sendealltag bestimmte Anwendungen vorherrschen. Allerdings bietet die Flexibilität, die auch außergewöhnliche Kombinationen – beispielsweise den Betrieb aller Studios und Sprecherräume an einer einzigen Regie – einschließt, auch für große Ausnahmeproduktionen eine Plattform. Und natürlich steht die Umschaltbarkeit von Regien auch gleichbedeutend für eine hohe Betriebssicherheit im Havariefall.
Zwei Taktraten
Ein Anliegen von Radio Bremen war die Freiheit bei der Wahl der Abtast rate. Wer heute ein digitales Studio baut, möchte vielleicht in Zukunft mit doppelter Abtastrate produzieren. Diesen Weg wollte man sich nicht verbauen. Dazu kam, dass die Produktion und Technik von Radio Bremen seit Anfang 2007 in eine eigenständige Firma, die Bremedia, überführt worden war. Da lag der Gedanke nicht fern, die vorhandene Technik zukünftig auch mit Fremdproduktionen auszulasten, was aber nur möglich ist, wenn die Ausstattung nicht nur Rundfunkstandards, sondern auch Produktionsstandards auf dem freien Markt entspricht. Kurz, Bremedia als Betreiber der Technik für Radio Bremen erbat sich die Möglichkeit, auch mit 96 kHz produzieren zu können. Dank der strengen Trennung der Netze, die jeweils durch die OMUXe geschaltet werden, geht dieser Wunsch nun auf besonders raffinierte Weise in Erfüllung. Während alle anderen Basisgeräte und Mischpulte weiter mit 48 kHz Rundfunkstandard betrieben werden, können die AURUS-Pulte und NEXUS-Netze der Regien 1 und/oder 2 wahlweise auf 96 kHz umgeschaltet werden. Durch die Inselbildung der Netze entfällt die Frage, wie man ausschließen kann, dass jemand versehentlich zum Beispiel eine 96-kHz-Quelle auf eine 48-kHz-Senke schaltet. Der große Organisationsaufwand, der nötig gewesen wäre, um in einem großen NEXUS-Gesamtnetz zwei unterschiedliche Abtastraten parallel einzusetzen, wird mit dieser Lösung elegant umgangen.
Delegieren auf Knopfdruck
Die OMUX-Schaltungen werden zentral per Tastendruck am BFE-Steuersystem veranlasst. Wählt man im KSC-System den Betriebsfall »Event-Studio auf TV-Regie«, schaltet der OMUX-Schalter des Event-Studios automatisch eine NEXUS-Glasfaserverbindung zur TV-Regie. Im Anschluss daran werden auch alle zugehörigen Signale, Rotlicht, Tally, Kommando und Rückwege bis hin zur Rückmeldung der Studioumschaltung automatisiert geschaltet. Es sind also neben dem einen Tastendruck zum Delegieren keine weiteren manuellen Umschalteingriffe erforderlich, die bei einer derartigen Komplexität der Schaltungsmöglichkeiten auch eher fehlerträchtig wären.
Grundsätzlich lässt sich eine derartige automatische Umschaltung auch alleine mit NEXUS-Logikfunktionen programmieren, wie dies zum Beispiel in den WDR-Regionalstudios in Kombination mit AURATUS praktiziert wird. Allerdings war für Radio Bremen das KSC-Steuersystem ohnehin als systemübergeordnete Steuerung eingeplant, so dass sich eine Integration der Delegierungsfunktionen in diese Steuerung anbot.
Auch bei der Produktionstechnik hört die Bi-Medialität nicht auf. Eine absolute Besonderheit des Senders stellt zudem die Zusammenlegung des TV- und des Hörfunk-Hauptschaltraums dar. Sie werden zwar von getrennten Teams in abgetrennten Nischen im Hauptschaltraum gefahren, setzen aber audioseitig und von Seiten der Steuerung auf derselben Technik auf.
Die zentrale Audiokreuzschiene basiert auf einem NEXUS STAR mit zunächst zehn direkt angeschlossenen Basisgeräten, die etwa 2.800 x 2.800 Schaltpunkte bieten. Daran schließen sich die NEXUS-Netze der AURUS-Regien als Inseln an, während die Sprecherräume variabel auch direkt in das Hauptnetz der Zentralkreuzschine geschaltet werden können. Dies dient vor allem dem Anschluss der acht FS-Schnittplätze, die über ein NEXUS-Basisgerät via Zentralkreuzschiene zur Nachvertonung mit einem Sprecherraum verbunden werden können.
Viele gute Gründe
Ein derart variables, technisches Konzept mit einer Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten, die Räumlichkeiten und Produktionsmittel betreffend, ließ sich dementsprechend nur mit AURUS, NEXUS und OMUX-Umschaltern realisieren. Bei der Entscheidung zur Audionetz und Mischtechnik für Radio Bremen gab daher die freie Wahl der Inselbildung eindeutig den Ausschlag zugunsten der STAGETEC-Technik. Allerdings überzeugten nicht nur NEXUS und OMUX, sondern auch AURUS an sich. Ganz besonders die einfache, weil an analoger Denkweise angelehnte Bedienung des AURUS wurde von den Mitarbeitern honoriert. Vor dem Hintergrund der Einarbeitung in eine völlig neue Technik schufen die sehr einfache Handhabung von AURUS in Produktion und Sendung und die gute Übersicht auf dem Pult schnell eine hohe Akzeptanz. Lediglich das Erstellen neuer Projekte war am Anfang gewöhnungsbedürftig, denn das kannte man aus der analogen Welt gar nicht. Aber auch hier fanden die Flexibilität und die vielen, bis dato nicht gekannten Möglichkeiten, die ein voll abspeicherbares AURUS in Kombination mit NEXUS bietet, rasch Anklang.
Zu guter Letzt sei noch eine Sache an der Installation bei Radio Bremen hervorzuheben: Über die exzellente Tonqualität wurde nie ernsthaft gesprochen. Sie wurde schlicht vorausgesetzt – was ein weiterer, stichhaltiger Grund für AURUS, NEXUS und die STAGETEC-Technik ist.
Rundfunktourismus
Schon im November 2007 führte Radio Bremen anlässlich einer knapp einwöchigen Intendantensitzung den übrigen öffentlich-rechtlichen Sendern Deutschlands stolz sein neues Funkhaus vor und erläuterte das zugrunde liegende Konzept. Mittlerweile hat sich bereits eine Reihe von Kollegen aus der Sendetechnik anderer Häuser angemeldet, um zu sehen, ob und wie sich die innovativen Planungsideen nun in der Realität bewähren.